Winterliche Ankunft auf dem Land - ein Bild
Im nördlichen Franken, dicht an der Grenze zu Thüringen, zieht sich vom Städtchen Selbitz bis nach Himmelkron, der östliche Abschnitt des Frankenwaldes. Seine Hügel haben weiche Formen und sind auf ihren Kuppen bewaldet. Fichten stehen hier dicht nebeneinander, bisweilen durchsetzt mit ein paar Buchen oder Birken, die sich dorthin verirrt zu haben scheinen. Weiches, dünnes Gras wächst aus dem Unterholz, breitet sich wie ein Teppich aus und wenn am Nachmittag die Sonne ihr Licht von Südwesten durch die hohen Stämme warm über die Hügel schickt, leuchtet es selbst im Herbst noch so grün, als sei der erste Sommertag.
Zu jeder neuen Jahreszeit wechseln die Felder ihre Kleider, vom dunkelsten Braun im Frühjahr bevor die Saat aufgeht, über ein leuchtendes Gelb im Juni, wenn - später als in anderen Regionen - der Raps blüht, dann im August zum Weizengold der Halme, die sich dicht an dicht auf den Feldern wiegen, bis hin zum weichen Hellbraun der Kartoffelpflanzen im Oktober vor der Ernte. Im Winter aber, wenn es schneit - und es schneit früh und häufig hier – liegt über dem Land eine dicke, weiße Decke, die nicht nur die Geräusche der Natur abdämpft, sondern auch die Gemüter der hiesigen Bewohner wie in Watte hüllt.
Ich sitze im Zug und bin auf dem Weg dorthin. Es ist Anfang Januar.
Entschließe ich Großstädter mich zu einer Reise ohne Auto in diese Gegend, so nehme ich den Schnellzug bis zur Stadt Hof. Von dort fahre ich mit der Regionalbahn in die nächstkleinere Stadt, steige dann in den nur einen Waggon zählenden Vorortzug um und erreiche den Ort, den ich meine, nach ungefähr fünf Stationen.
Schon von Ferne leuchtet mir der eingeschneite Kirchturm des Städtchens am Berghang entgegen. Um ihn drängen sich die alten Häuser, als hätte sie jemand dort zusammengetrieben und für einen Fotografen arrangiert.
Der Bahnhof liegt unterhalb der Häuser am Berghang. Durch die Ebene davor ziehen sich die ankommenden Gleise in einem weiten Bogen. Schon lang vor seinem Erscheinen kündigt sich der Zug mit mehreren lauten Pfiffen an.
Im Bahnhof angekommen, hält er mit zögerndem Quietschen. Endstation, bitte aussteigen!, tönt es durch dem Lautsprecher. Ja, hier geht es nicht mehr weiter. Die Gleise vor meinem Zug verschwinden im wuchernden Gestrüpp. Noch vor einigen Jahren lag der Endbahnhof ein paar Kilometer weiter im nächsten Ort. Aber die Fahrten lohnten sich nicht mehr, man legte die Strecke still und nun erobert sich die Natur alles Stück für Stück zurück.
Mit drei anderen Fahrgästen steige ich aus dem Zug. Eisiger Wind schlägt uns entgegen. Auch der Lokführer und der Schaffner steigen aus. Sie klappen ihre großen Jackenkragen hoch, ziehen die Uniformmützen tief ins Gesicht und verschwinden durch eine Tür im alten Bahnhofsgebäude. Wir Fahrgäste folgen ihnen nicht. Für uns ist der alte Klinkerbau verschlossen und seine Tore mit rohen Holzlatten vernagelt. Früher saß im Neonlicht der Halle hinter einer Glasscheibe ein Beamter und verkaufte hellbraune, Pappkärtchen, die später während der Fahrt mit der Lochzange des Schaffners entwertet wurden. Heute gibt es auf dem Bahnsteig nur noch einen großen, gelben Metallkasten, den man mit Kleingeld oder einer Chipkarte füttern muss, damit er einen Fahrschein ausgespuckt.
Ich ziehe meinen Schal über Haare, Mund und Nase, gehe um das alte Gebäude herum. Die anderen Fahrgäste zerstreuen sich nach rechts und links. Es ist später Nachmittag. Zusammen mit der Kälte und der Dunkelheit krieche ich aus der Ebene die Straße hinauf. Ich kann meine Schritte sicher setzen, denn die verschneiten Bürgersteige sind beleuchtet, sorgfältig gekehrt und mit rötlicher Asche aus den Öfen der Wohnstuben bestreut.
Abgesehen von mir, ist es menschenleer. Ich höre das Knirschen meiner Schritte in der Stille. Durch gelbe Gardinen scheint mattes, warmes Licht aus den Fenstern. Einige jedoch starren wie tote Augenhöhlen in die schmale Straße und auf mich herab. Etliche Häuser hier sind unbewohnt, die Menschen weggezogen in die nächstgrößere Stadt.
Ich komme am Schuhgeschäft vorbei. Das Schaufenster ist dunkel. Vor einem Jahr habe ich mir hier noch die Winterstiefel gekauft, die ich gerade trage. Nun aber ist der Laden seit dem letzten Sommer geschlossen. Sein Besitzer starb, der Sohn zog fort, und die Witwe weiß nicht, was sie mit dem Geschäft anfangen soll.
In der kleinen Bäckerei brennt noch Licht. Ich bleibe vor dem Schaufenster stehen. Die Verkäuferin räumt gerade die nicht verkauften Brote aus dem Regal. Sie dreht sich um, nickt mir zu, fragt mit einer stummen Geste, ob ich noch etwas kaufen wolle. Nein, schüttele ich den Kopf und wende mich zum Gehen, höre, wie sich hinter mir der Schlüssel im Schloss dreht.
Auf dem fahl beleuchteten Bürgersteig der kleinen Hauptstraße gehe ich direkt auf die Kirche zu. Ihre Glocke, oben im Turm, schlägt gerade sechsmal. Ich komme am Gemüsegeschäft vorbei. Dort blühen, vom Neonlicht angestrahlt, prächtige Eisblumen im Fenster. Äpfel und Kartoffeln, die in der warmen Jahreszeit in Kisten vor der Eingangstür aufgebaut stehen, drängen sich heute in dem kleinen Lädchen. In der offenen Tür stehen zwei Frauen in ein Gespräch vertieft. Als ich vorbeigehe, wendet sich die eine mir zu und murmelt „Grüß Gott!“
Im Rathaus ist Dienstschluss, nur in der Pförtnerloge brennt ein bläuliches Licht. Ein Mann kommt heraus, geht an mir vorbei und nickt mir zu. Ja, hier grüßen sich alle, wenn sie sich begegnen, auch wenn sie sich nicht kennen.
Dabei sind die Bewohner des Frankenwaldes eher wortkarg. Sie reden nur das Wichtigste. Sich gegenseitig zu sehen und zu grüßen, ist hier wichtig. Und sie sind langsam und dies in der kalten Jahreszeit noch mehr als im Sommer. Es scheint mir oft, als lebten sie noch stärker mit der Natur als wir Städter. Wie das Land um sie herum, sammeln sie im Winter Kräfte für einen neuen Anfang, im Frühling, wenn der Schnee geschmolzen ist und neues Leben aus der braunen, erwachenden Erde dringt.
Wir Großstädter verstehen das anfangs nicht, denn unser Leben spielt sich zwischen hohen Steinfassaden ab, die keine Ruhe und keinen Jahreslauf mehr kennen. Aber die Menschen hier, nehmen sich für alles, was sie tun, viel Zeit und erledigen es sehr langsam.
Als ich das erste Mal aus der Stadt hierherkam, spürte ich den Unterschied sofort, hatte aber keine Erklärung dafür. Ich war sogar etwas beunruhigt, eilte irritiert umher und fragte mich, weshalb ich plötzlich zu nichts gedrängt wurde, niemand mich schob oder an mir herumzerrte. Aber schon beim nächsten Besuch trat eine Veränderung ein und bei dem darauffolgenden geschah es gleich nach der Ankunft. Ich ließ meine städtische Rastlosigkeit und Unruhe im Zug zurück und tauchte schon am Bahnhof in die wunderbare innere und äußere Langsamkeit der Landschaft und ihrer Bewohner ein.
Zu meinem Haus muss ich noch zwei Kilometer laufen. Es liegt im nächsten Dorf. Ein Bus fährt nicht. Gleich hinter der Kirche geht es ein Stück bergauf, dann vorbei am Friedhof und danach komme ich an dem Schild mit dem durchkreuzten Ortsnamen und dem letzten Einfamilienhaus vorbei. Hier fasert das Städtchen in die Natur aus. Noch einmal begegne ich zwei eingemummte Gestalten, die ein leises Grüßgott zu mir herüberschicken. Dann gehört die Landstraße mir allein.
Ich gehe langsam, atme mit jedem Schritt tiefer ein und aus und genieße die Zweisamkeit mit der Natur. Lautlos fängt es an zu schneien. Im Gegenlicht der Laternen, die meinen Weg säumen, schweben Flocken herab und bedecken nach kurzer Zeit meinen Mantel mit einer weißen, glitzernden Schicht. Ich höre, wie meine Schritte zögernd in der Stille knarren, nur für Momente unterbrochen vom Motorenlärm eines Autos, das an mir vorbei braust und mich dabei blendet. Aus der Ferne schallt ein leiser Pfiff zu mir herüber. Der Zug auf dem Bahnhof macht sich wieder zu seiner Abfahrt bereit. Ich aber stapfe auf mein Dorf zu. Ja, es ist mein Dorf, denn ich komme seit vielen Jahren regelmäßig einmal im Sommer und einmal im Winter hierher.
Gleich müsste links aus der Dunkelheit die alte Telefonzelle auftauchen. Aber wo ist sie? Dort wo sie bei meinem letzten Besuch im Sommer noch stand, erkenne ich jetzt die Umrisse eines Müllcontainers. Wahrscheinlich werden sie das gelbe Häuschen abgetragen haben. Wer telefoniert denn heute noch aus einer Zelle?
Den unbeleuchteten Gasthof, der nur noch einmal in der Woche für ein paar Stunden seine Türen für Gäste öffnet, lasse ich rechts liegen, umrunde den zugefrorenen Dorfteich und stapfe die Straße hinauf. Tief verschneit wartet mein Haus in der Dunkelheit auf mich, mit seiner langen Dachseite rechts zum Berg hin und der kurzen, zur Straße hingeneigt. Ich sehe es schon von Weitem, vor der Eingangstür türmt sich ein hoher Schneewall, der die niedrigen Fenster im Erdgeschoss zu Dreiviertel verdeckt und die Haustür ist ganz verschwunden. So ist das jedes Mal, wenn ich im Winter herkomme. Der vorbeifahrende Schneepflug hat in den vergangenen Wochen den Schnee immer wieder vor mein Haus geschoben. Und da niemand da war, blieb er liegen. Ich werde mich hindurchgraben müssen, um zur Tür zu gelangen.
Auf dem Hof gegenüber schippt im Dämmerlicht der Stalllaterne die alte Bäuerin den Schnee gegen einen Holzzaun. Als ich stehen bleibe, um zu überlegen, was ich tun könnte, unterbricht sie ihre Arbeit, stützt ihren Kopf auf die Hände, die das Ende des Schneeschaufelstieles umfasst haben und schaut zu mir herüber. Ich nicke ihr zu.
Da hebt sie langsam, mich begrüßend eine Hand und ruft:
„Bisde wedda dou…!“
Und weil ich nicht weiß, was ich darauf sagen soll, nicke ich und winke stumm zurück. Da kommt sie in kleinen Schritten durch den Schnee zu mir getrippelt und reicht mir ihre Schaufel.
„Damit de neikimmst!“ murmelt sie, wendet sich zum Gehen und verschwindet kurz darauf in ihrem Haus.
Ich aber lege meinen Rucksack in den Schnee und beginne, wie jedes Jahr, mir einen Zugang zu meinem Haus zu schaufeln.