Auf den Unterseiten Prosa und Lyrik findest du eine Auswahl meiner Gedichte und einen Prosatext.

Ab und zu werde ich neue Gedichte und Texte einstellen, je nach Lust und Laune.

 

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Im fünften Leben

Man sagt, eine Katze habe neun Leben - oder sieben - auf jeden Fall mehr als fünf. Ich aber frage mich:  Wie viele Leben hat der Mensch? Und weiter: Wie viele Leben habe ICH? Und wenn es denn so ist, im wievielten Leben stehe ich gerade? Erst vor Kurzem habe ich darüber nachgedacht. Ich kam zu dem Ergebnis, dass ich mich, alle Aufs und Abs, alle Lebensorte und Lebenssituationen eingerechnet, gerade in meinem fünften Leben befinde. Schon taucht die nächsten Fragen auf: Wie viele Leben liegen wohl noch vor mir? Ist mein Leben nur das, welches mir bewusst ist? Gab es vielleicht früher schon das ein oder andere Leben, an das ich mich nur nicht erinnern kann? Man mag daran glauben oder nicht, ich komme auf jeden Fall später noch einmal darauf zurück.

In meinem ersten Leben an das ich mich erinnere,  war ich Hamburgerin. Dort ging ich in den Fünfziger- und Sechszigerjahren des letzten Jahrhunderts zur Schule. Man versuchte mir das Einmaleins der Mathematik und das des Lebens beizubringen. Dabei lernte ich eine ganze Menge u.a. auch schreiben. Ich lernte Geduld zu haben, zu beobachten und zu teilen, denn wir waren fünf Kinder zuhause. Ich lernte Diplomatie und fing in den Jugendjahren an, mir eigenen Gedanken über das Leben zu machen. Ich fing an zu schreiben. So schaffte ich es bis zum Abitur.

Meine drei folgenden Leben verbrachte ich im geteilten, später wiedervereinigten westlichen Berlin. Ich studierte turbulent, wie man das in den Siebziger-Jahren tat, gründete eine Familie, bekam zwei Töchter und stand viele Jahre nicht nur auf der Bühne des Lebens- sondern auch auf einer eines Berliner Off-Theaters. Etwas später ging ich in den Schuldienst, wo ich mit sehr besonderen Kindern, die von Autismus betroffen waren, arbeiten durfte. Bis zur Maueröffnung lebte ich gerne in der Metropole. Danach wurde mir alles zu groß, zu viel, zu laut, zu hektisch. Trotzdem lief ich nicht weg, blieb bis zu meiner Pensionierung 2015. Dann aber zog ich in das etwas beschaulichere Hannover - und dort begann mein fünftes Leben.

Was willst du denn in Hannover, fragten mich meine Berliner Freunde. Ich versuchte zu erklären. Meist reichte die Zeit nicht und so erfuhren nur die wenigsten Freunde von folgendem Grund: Ich bin auch hierher gezogen, weil ich das südliche Umland von Hannover so gerne mag. Aber warum das?

Kennst du das? Du fährst mit dem Auto durch eine Landschaft, in der du noch nie warst. Plötzlich hast du so ein Gefühl - ein sehr gutes und warmes Gefühl – vor allem im Bauch. War ich schon einmal hier, überlegst du und hast den dringenden Wunsch anzuhalten, auszusteigen und die Luft zu schnuppern. Das machst du! Es ist Sommer, der Mohn blüht rot, die Luft ist süß und das Grün so üppig, dass es fast aus den Blättern quillt. Du läufst ein paar Schritte ins Feld, blinzelst in die Sonne, atmest tief ein und aus und sagst leise zu dir: Wie schön es hier ist! Und weil dir alles so vertraut erscheint, überlegst du wieder, ob du vielleicht doch schon einmal hier warst. Dir fällt dazu aber nichts ein. Und dann lässt du los!

So war das bei mir und zwar lange vor dem Entschluss, nach Hannover zu ziehen. Es stimmt, ich war vorher noch nie in dieser Gegend gewesen, zumindest erinnerte ich mich nicht daran! Woher kam dann die Vertrautheit? Auf einmal durchflog mich ein Gedanke: Vielleicht habe ich schon einmal gelebt und habe in diesem „vorherigen“ Leben genau in dieser Landschaft gewohnt, bin schon damals durch dieses Feld gegangen, vielleicht als arme Bäuerin im 19. Jahrhundert oder noch früher? Wer weiß das schon?

Und so stand ich da, mitten im Feld, sog die Natur mit allen Sinnen ein, als plötzlich etwas mit mir geschah: Ich löste mich aus mir selbst heraus  und wurde zwei.  Ich war ich und vor mir stand plötzlich ein Mädchen, vielleicht 14 Jahre alt, mit verwilderten Zöpfen in einem zerschlissenen Kleid. Und das war auch ich! Um den Kopf des Mädchens - also um meinen - flatterte ein großer blauer Schmetterling. Wir sahen uns an. Wer bist du? – fragten wir uns stumm gegenseitig. Da drehte sich das Mädchen mit ein tanzenden Bewegung von mir weg, sprang durch das Kornfeld hinter dem Schmetterling her  und verschwand im nahe gelegenen Wald. Vorbei war die Imagination.

Ich stieg ins Auto, fuhr weiter und landete in dem mir bis dahin ebenfalls unbekannten Städtchen Gehrden. Es war Samstagmittag kurz vor 12 Uhr, als ich über den Marktplatz schlenderte. Von Weitem sah ich die große Tür der Margarethenkirche offenstehen. Ich ging hinein und kaum saß ich in der Bank, da fing die Orgel an zu spielen. Musik, die ich kannte und liebte. Hier bin ich willkommen, dachte und fühlte ich. Später ging ich hinüber zum Marktcafé, setzte mich unter einen Sonnenschirm, bestellte einen Cappuccino und beobachtete das Treiben vor mir auf der Straße. Kaum saß ich ein paar Minuten, da kam plötzlich ein großes schwarzes Pferd um die Ecke der Kirche geritten und auf ihm saß ein stolzer Reiter in herrlich altmodischer Kleidung, einer Art goldener Rüstung. Er wurde von bunten Fahnenträgern, Trommlern und Schalmeienmusikern begleitet. Um alle herum tanzten, rannten und sprangen Kinder. Plötzlich entdeckte ich unter ihnen auch das Schmetterlingsmädchen aus dem Kornfeld. Das war ich! Gleichzeitig saß ich auf dem Caféhausstuhl und beobachtete alles.

Du glaubst mir nicht? Es ist deine Entscheidung, zu glauben was du liest, oder nicht! Ich jedenfalls fühlte mich sehr wohl in diesem Moment. Alles passte zusammen! Ich bestellte mir noch einen Cappuccino und stieg etwas später mit dem Entschluss in mein Auto, nach meiner Pensionierung irgendwo in diese Gegend zu ziehen. Nun lebe und schreibe ich schon ein paar Jahre hier in Hannover. Und wenn ich im Sommer in den Feldern des Calenberger Landes spazieren gehe, fühle ich, das alles richtig und sehr gut ist!

 

Schmetterlingsmädchen

 

Schmetterlingsmädchen, dem Sommer entsprungen,       

reich mir die Hände, wir drehn uns im Kreis.          

Du kamst aus dunkler Zeit, jung deine Seele                   

und musstest vergehn für mich flatternd leis.        

 

Mohnblüte zitterte blutig im Felde,                         

ärmlich dein Rock, ganz zerschlissen und rot.                  

Trommeln und Lanzen, sie kamen zu Pferde           

und schlugen dich tanzendes Kind für mich tot.     

 

Schmetterlingsmädchen, mir wiedergeboren          

trägt dich dein Flügel in bessere Zeit ?                   

Lös‘ deine Zöpfe, ich reich dir die Krone                           

und leg dir zu Füßen ein neues Kleid.