Zum Inhalt des Buches ECHSENKÖNIG
Der Roman "Echsenkönig" ist in erster Linie ein Roman für Kinder und Jugendliche - aber nicht nur! Auch Erwachsene profitieren von diesem Roman, in dem es um die Freundschaft zwischen dem Mädchen Janne und dem von Autismus betroffenen Jungen mit dem Namen Anders geht. Beide Kinder könnte man zu den Außenseitern der Klasse zählen, denn Janne denkt, sie mag keiner, weil sie eine Brille mit dicken Gläsern tragen muss, ohne die sie nicht gucken kann. Sie fühlt sich ausgeschlossen aus der Gruppe, isoliert sich aber auch selbst, indem sie dauernd liest. Nun kündigt die Klassenlehrerin einen neuen Schüler an und Jannes größter Wunsch, am Anfang der Handung ist, dass dieser Junge ihr Freund wird. Sie überlegt sich genau, was sie tun kann, damit das gelingt. Dass dies aber nicht so einfach ist, zeigt sich schon am ersten Schultag...
Die Handlung ist aus zwei unterschiedlichen Perspektiven geschrieben, sowohl aus Jannes Sicht, aber auch aus der von Anders (schräg gedruckte Textpassagen). Zum Ende des Buches verdichtet sich alles, die Wechsel werden enger, die Textpassagen aus einer Sicht kürzer. Es wird gezeigt, dass beide Sichtweisen gleichwertig nebeneinander stehen können und Gültigkeit haben. Es geht um die unterschiedliche Wahrnehmung der Geschehnisse und den damit verbundenen differierenden Gefühlen und Handlungsweisen der Kinder. Es geht aber auch um Verständnis, um Akzeptanz und Respekt vor dem Anderssein.
Leseprobe / Auszüge aus Kaptiel 2 und 4:
Der Neue
„Achtung! Sie kommt!“, schreit Paul.
... Frau Seefeert betritt den Klassenraum.. Da steht sie nun, mitten im Chaos, groß und spindeldürr, mit ihren knallroten Locken, dem spitzigen Kinn und ihrem grünen Flauschpullover. Janne denkt: Sie sieht heute wirklich wieder mal so aus, wie sie heißt, nämlich wie ein Seepferd. Ja, sie ist wirklich ein Seepferd, so aufrecht und mit dem etwas nach vorn gebogenem Hals und den spitz geformten Lippen.
„Ich heiße Frau Seefeert mit vier e …“ hat sie sich am ersten Schultag vorgestellt. Jetzt zittern die roten Locken auf der Stirn, so wie sie es immer tun, kurz bevor das Gemecker losgeht.
Zwischen den Tischen bricht Hektik aus! Zerknüllte Papiere fliegen in den Mülleimer, die Mappen kriegen Fußtritte und landen unter den Tischen. Nur um den Papierkorb leuchten viele weiße Papierschneeflocken und an der Deckenlampe glänzen kleine, ekelige Kugeln und sehen aus wie dicke, weiße Pickel. Und der Neue? Wo ist der?
Janne schaut zur Tür, die einen Spalt weit geöffnet ist. Plötzlich wird sie aufgeschoben, zaghaft und langsam und nicht so energisch wie bei Frau Seefeert. Ein Junge erscheint und bleibt an der Tür stehen. Er dreht sich um und schließt sie, drückt dabei die Klinke sorgfältig und sehr langsam. Dann geht er mit merkwürdig kleinen Trippelschritten zu Frau Seefeert hinüber und stellt sich neben sie. Den Kopf hält er gesenkt. Immer noch ist es unruhig in der Klasse, aber einige haben den Neuen schon entdeckt und schauen jetzt nach vorn und zischeln: „Seid doch mal ruhig!“
Janne Herz klopft plötzlich stark und laut. Fast so wie in dem Traum von gestern Abend. Hoffentlich hört Paul das nicht, denkt sie und drückt mit der flachen Hand gegen ihre Brust.
Der Junge, der vorne steht, ist groß und ziemlich dünn, hat lange Beine, die in ausgewaschenen Jeanshosen stecken. Sein Haar ist glatt und weißblond und fällt ihm vorne so tief ins Gesicht, dass man seine Augen gar nicht richtig sehen kann. Er guckt auch noch immer nach unten, vielleicht auf seine Schuhe, genau kann Janne das nicht erkennen. Die Schuhe sehen aber ganz normal aus, so wie weiße Turnschuhe eben aussehen. Eine ganze Weile steht der Junge so da, während Frau Seefeert darauf wartet, dass die Unruhe und das Gemurmel aus dem Fenster fliegen. Janne schaut zu dem Jungen.
„Guck doch mal her!“, flüstert sie leise.
„Halt die Klappe!“, platzt Paul laut heraus, weil er denkt, er sei gemeint. Frau Seefeert aber wirft einen strengen Blick in Pauls und Jannes Richtung.
Janne starrt nach vorn. Und da passierte es. Der Junge hebt plötzlich den Kopf, wirft seine Haare aus der Stirn und guckt. Nicht zu Paul guckt er, nein, zu Janne guckt er und zwar direkt in ihre Augen. Schnell wie ein Pfeil fliegt sein Blick aus dem Augenwinkel seiner hellen, blauen Augen genau zu ihr, obwohl sie so weit hinten sitzt und diese hässliche Dickglasbrille trägt. Janne wird ganz merkwürdig im Bauch und sie muss schnell auf die Tischplatte gucken. Ihr Herz wummert, als sie wieder nach vorne schaut. Aber der Neue guckt schon nicht mehr zu ihr, er guckt wieder nach unten auf seine Schuhe. Ganz still steht er da und rührt sich nicht. Ob es ihm peinlich ist, dass er sie angesehen hat? Ach, ist doch egal! Wichtig ist: er hat sie angesehen! Vielleicht geht ihr großer Wunsch ja in Erfüllung.
Frau Seefeert, die eben noch so ausgesehen hat, als würde sie gleich platzen, tut dies nicht. Nein, sie lächelte mit ihren blendend weißen Zähnen von oben auf den neuen Schüler herab.
„Anders“, sagt sie, „das sind deine neuen Mitschülerinnen und Mitschüler. Manchmal geht es hier etwas drunter und drüber, aber im Prinzip sind alle sehr nett. Du wirst bestimmt schnell Freunde finden. Ich denke, es ist gut, wenn du dich neben Janne setzt. Paul, dich möchte ich bitten, drei Plätze weiter nach links zu rücken. Der Platz neben Sina ist ja schon lange frei.“
Hat Janne richtig gehört? Was hat das Seepferdchen da eben gesagt? Paul soll sich umsetzen und der Neue krieg den Platz neben ihr? Genau das hat sie sich doch gewünscht!
Heute ist mein Glückstag, denkt Janne und ihr Gesicht fühlt sich plötzlich ganz heiß an. Paul schlurft mit seinen Sachen zu Sinas Tisch hinüber. Nun ist der Platz neben Janne frei.
„Da, neben Janne ist dein Platz, Anders. Dort kannst du dich hinsetzten“, flötet Frau Seefeert Anders ins Ohr. Der aber bewegt sich nicht. Janne wischt schnell mit ihrem Arm über die Tischplatte. Sie weiß eigentlich nicht weshalb, wahrscheinlich, damit sie nicht nach vorne schauen muss.
„Nun geh’ schon, Anders!“ Frau Seefeerts Stimme klingt auf einmal energischer. „Janne ist ein ruhiges Mädchen und beißt dich nicht!“ Der Neue aber rührt sich immer noch nicht und starrt weiter auf seine Schuhe. Sein helles Haar verdeckt das ganze Gesicht.
...
Da bewegt Anders sich auf einmal doch. Aber er kommt nicht zu Jannes Tisch. Er schaut zur Tür, dreht sich um, geht auf sie zu und drückte die Klinke herunter, mehrfach, immer wieder, bis er sie öffnet. Will er etwa gehen? Aber Anders schaut nur kurz hinaus in den Flur und schließt die Tür gleich darauf wieder. Dann geht er zurück zu Frau Seefeert, stellt sich wieder neben sie, als ob nichts geschehen sei, und guckt wieder auf seine Schuhe. Frau Seefeert schaut ihn fragend an. Merte und Sina halten sich inzwischen die Hände vor den Mund und Janne weiß, dass sie gleich losprusten werden. Janne aber starrt wieder zu Anders. Bitte, komm doch endlich, denkt sie. Aber in ihrem Kopf klingt gerade eine ganz andere Stimme, die sagt: Er findet dich sowieso doof, so doof wie alle anderen auch! Janne wird ganz flau im Magen. Hoffentlich merkt es keiner. Und damit das nicht passiert, wischt sie jetzt immer wilder mit dem Arm auf der blanken Tischplatte herum, immer hin und her und hin und her. Weshalb kommt der Neue nicht zu seinem Platz? Warum starrt er bloß auf seine blöden Schuhe und tut so, als ob er gar nicht gehört hat, was Frau Seefeert gesagt hat? In der Klasse ist es auf einmal still, eine richtig merkwürdige und unangenehme Stille ist das. Einige flüstern. Janne hört es.
„Was ist denn mit dem los?“, und „Mann, der hat ja die Hosen gestrichen voll!“
Aber ehe die Unruhe wieder zu groß wird, nimmt Frau Seefeert Anders plötzlich an der Hand, wie ein kleines Kind, und führt ihn zu Jannes Tisch. Und Anders lässt sich das gefallen! Janne stockt der Atem. Wie peinlich ist das denn! Und der neue Junge tut nichts dagegen! Alle in der Klasse halten den Atem an. Keiner lacht mehr, auch Paul, Leo und Sina nicht. Alle wissen, dass jeder, der in diesem Moment auch nur den leisesten Versuch machte, zu kichern, von Frau Seefeert mit Blicken erwürgt wird. Und nach ein paar Sekunden sitzt Anders tatsächlich neben Janne. Die Schulmappe rutscht von seinem Rücken und landet ganz ordentlich neben dem Tisch. Frau Seefeert geht nach vorn zur Tafel zurück und endlich beginnt der Unterricht.
Ich. Anders
Jetzt rede ich. Ich. Anders.
Meine Mutter sagt: Der Name passt zu dir, Anders. Du bist anders als alle anderen.
Der Arzt Doktor Büchner meint zwar, ich sei autistisch, aber ich finde mich normal. Ich finde die anderen oft merkwürdig.
Ich weiß viel. Besonders viel weiß ich über Echsen. Ich lese viel über sie. Zurzeit interessiert mich besonders der Komodowaran. Ich lese alles über ihn. Ich sammle auch Echsen. Ich habe Echsen aus Plastik, aus Stoff, aus Gummi und sogar eine geschnitzte, aus Holz. In meinem Regal zuhause stehen meine Echsen. Meine Hauptechse Nummer 1 heißt Komodo. Komodo ist 35 Zentimeter groß und aus grünem Glanzstoff. Mein größter Wunsch ist eine lebendige Echse. Aber das ist eine Illusion, sagt meine Mutter, nicht erfüllbar. Komodo begleitet mich immer. Aber derzeit ist auch Echse Nummer 12 für mich sehr wichtig. Sie ist klein und aus Plastik. Sie ist auch mein Begleiter.
Heute ist ein besonderer Tag. Meine Mutter und ich gehen in die neue Schule. Ich muss in diese neue Schule gehen, weil wir umgezogen sind. Ich wäre gerne in meiner alten Schule geblieben, dort kenne ich mich gut aus. Jetzt ist alles neu. Das gefällt mir nicht. Der erste Raum, in den ich komme, hieß Sekretariat. Dort muss ich mich auf einen Stuhl setzen und warten. Es ist sehr ruhig hier, was mir gefällt, denn meine Ohren vertragen keinen Lärm. Trotzdem habe ich Angst, weil alles neu ist und ich nichts kenne.
Auf einmal kommt ein grüner Pullover herein in dem eine stockdünne Frau steckt. Auf ihrem Kopf sind kurze Feuerhaare, also rot. Ich muss der Person die Hand geben und sie kurz ansehen. Ich hasse das, aber ich tue es trotzdem, denn es gehört zur Höflichkeit, sagt meine Mutter. Ich gucke nicht in die Augen der Feuerkopffrau, sondern auf ihre Stirn. Das ist einfacher. Da sagt der Mund der Frau: „Ich bin Frau Seefeert mit vier ‚e‘, deine neue Lehrerin.“ Ihr Gesicht ist dreieckig, mit einer Spitze unten, da wo das Kinn ist. Meine Mutter verabschiedet sich und geht. Der grüne Pullover sagt: „Komm“, und wir gehen durch die Dunkelflure.
Die Flure sind lang und die Schuhe der Frau machen ‚Klock-klock‘ auf dem Boden. Das hört sich gut an. Aus den Klassenzimmern dringt Lärm zu mir, aber aus einem dringt ganz besonders unbeschreiblicher Lärm heraus und grelles Licht. Ausgerechnet in diesen Raum muss ich hinein. Ich bleibe vor der Tür stehen. Die Frau Seefeert mit vier ‚e‘ geht hinein und lehnt die Tür an. Ich sehe durch den Schlitz.
Angst ist in mir. Mindestens Angstlevel sieben von zehn. Durch den Türschlitz kommt Licht auf mich zu. Viel zu hell für mich. Meine Augen vertragen kein helles Licht. Auch die Geräusche sind zu laut für meine Ohren. Trotzdem gehe ich hinein. Die Türklinke macht ‚Klock-klock‘ beim Hinunterdrücken. Ein angenehmes Geräusch. Im Raum erkenne ich nichts, weil alle so schnell hin und her laufen. Es sind viele Kinder. Ich kann auch nicht verstehen, was sie sagen, denn sie sprechen alle gleichzeitig.
Aber da ist eine Stimme, die sagte: Guck doch mal her! Und ich gucke. Die Stimme gehört zu einem Mädchen mit Augengläsern und sehr vielen Haaren auf dem Kopf. Das gefällt mir. Ich mag Personen mit Augengläsern. Die Gläser schützen den Blick hinein und heraus. Meine Mutter sagt, ich soll ‚Brille‘ sagen. Ich sage aber ‚Augengläser‘, denn es sind doch Gläser vor den Augen.
Ich stehe in dem Raum und habe Angst, wieder in einem hohen Level und bin so aufgeregt. Ich drücke zur Beruhigung mehrfach die Türklinke, weil ich das schöne ‚Klock‘ hören will. Klock-Geräusche beruhigen mich. Dann ist die Angst nicht so groß. Das Klock-Geräusch hört sich wiederholgut an.
Ich stehe neben der Frau. Sie sagt viele Wörter. Aber ich verstehe vor Aufregung den Sinn nicht. Ich soll etwas tun, denn alle gucken zu mir und warten auf etwas. Ich weiß aber nicht, was ich tun soll. Auf einmal verstehe ich doch. Ich soll mich neben die Augenglasträgerin setzen. Ich will losgehen, aber ich kann mich nicht bewegen. Ich weiß nicht, wie ich meine Beine heben und bewegen soll. Das ist eine furchtbare Sache. Da greift die Feuerkopffrau meine Hand und zieht mich zum Stuhl und dann sitze ich.
Ich stelle Echse Nummer 12 auf den Tisch. Die Frau redete blablabla. Ich verstehe wieder nichts. Sie zeichnet Striche an die Tafel. In meinem Kopf wirbelt alles durcheinander, die Sprache der Frau und die vielen bunten Bilder an den Wänden. Das Mädchen mit den Augengläsern starrt mich von der Seite an. Das ist unangenehm. Sie soll das lassen.
Nach ein paar Minuten erkenne ich doch, dass die Zeichen an die Tafel geometrische Formen sind. Ach, das kenne ich, das kenne ich gut. Ich zeichne auch gerne und gut.
Die Augenglasträgerin redet plötzlich auch blablabla. Ich verstehe wieder nicht, nur ein Wort: Regenjacke. Warum sagt sie ‚Regenjacke‘? Und dann fasst sie mich an. Das ist gar nicht gut. Sie soll mich besser nicht anfassen. Ich mag das nicht.
Ich warte, bis sie nicht mehr starrt. Dann beginne ich ein kleines Gespräch. Ich spreche über Echsen und bitte sie, den Stundenplan abzeichnen zu dürfen. Plötzlich reißt sie den Stundenplan vom Tisch. Es gibt ein sehr lautes Geräusch. „Ffffttt“. Ich erschrecke heftig.
Jetzt zeichne ich den Stundenplan ab. Ich kann meine Haare knistern hören, so wunderbar still ist es auf einmal. Die Augenglasträgerin riecht angenehm hellgelb und ihre Augengläser sind sehr dick. Das ist so gut. Ich spreche einige Sätze mit ihr. Um mich zu beruhigen, lasse ich wieder mein Haar knistern.
Die Stimme der grünpullovrigen Frau Seefeert mit vier ‚e‘ ist hoch, etwas schnarrend und so nachmachgut, dass ich es probiere.
Plötzlich kommt ein Krrr aus der Wand. Ich erschrecke wieder sehr. Das Krrr heißt, dass der Schultag zu Ende ist und alle gehen dürfen.
Da ich mir vorgenommen habe, den Raum als Erster zu verlassen, weil ich das ‚Klock‘ der Türklinke unbedingt noch einmal hören will, verlasse ich ihn auch als Erster.
Auch wenn alles sehr schwierig ist und ich große Angst habe in der neuen Schule, will ich morgen wieder hingehen.
Ich will es schaffen. Ich kann es schaffen.